Seit mehr als einem halben Jahrhundert versuchen Astrophysiker, eine scheinbar einfache Frage zu beantworten: Wo genau entstehen Röntgenstrahlen (X) in den Jets supermassereicher Schwarzer Löcher. Nun wurde dieses Rätsel dank der bisher längsten Beobachtung eines einzelnen Ziels durch das Weltraumteleskop IXPE (Imaging X-ray Polarimetry Explorer) endlich gelöst. Einem internationalen Wissenschaftlerteam ist es gelungen, die Quelle der Röntgenstrahlen im Jet des Schwarzen Lochs in der Galaxie 3C 84 im Zentrum des Perseus-Galaxienhaufens zu identifizieren. Die Ergebnisse wurden am 11. November dieses Jahres in der Fachzeitschrift The Astrophysical Journal Letters veröffentlicht.
Dies ist ein Wendepunkt für die Hochenergieastronomie: Neue Messungen zeigen, dass die Röntgenstrahlen nicht aus einem diffusen „Hintergrund“ um den Jet stammen, sondern aus dem Jet selbst. Dies ist das erste Mal, dass eine solche Schlussfolgerung durch direkte Messung der Röntgenpolarisation gezogen wurde – die Spezialität der NASA-Mission IXPE, dem ersten Weltraumobservatorium, das genau dieser Art von Beobachtung gewidmet ist.
Perseus-Haufen: Der hellste Röntgenleuchtturm am Himmel
Um das Rätsel zu lösen, machten die Wissenschaftler den Perseus-Haufen zu einer Art kosmischem Labor. Dieser gewaltige Galaxienhaufen, in Katalogen als Abell 426 bezeichnet, befindet sich im Sternbild Perseus in einer Entfernung von etwa 230 bis 240 Millionen Lichtjahren von der Erde. Der Perseus-Haufen ist eine der massereichsten Strukturen in unserer „Nachbarschaft“ und als der hellste Galaxienhaufen am Röntgenhimmel bekannt: Zwischen Tausenden von Galaxien ist eine riesige Gaswolke verstreut, die auf Temperaturen erhitzt ist, die mit dem glühenden Inneren der Sonne vergleichbar sind.
Im Zentrum dieses Haufens liegt die massereiche elliptische Galaxie NGC 1275, auch bekannt als Perseus A oder, in Radiokatalogen, 3C 84. In ihrem Kern befindet sich ein supermassereiches Schwarzes Loch, das einen starken aktiven Galaxienkern (AGN) erzeugt und Jets aus geladenen Teilchen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit antreibt. Aufgrund der relativen Nähe und der außergewöhnlichen Helligkeit ist 3C 84 seit Jahrzehnten eine der am detailliertesten untersuchten aktiven Galaxien – ein ideales Ziel für die Erforschung, wie Schwarze Löcher ihre Umgebung formen.
Die Umgebung von NGC 1275 ist besonders dramatisch. Röntgen- und Radioaufnahmen zeigen Hohlräume und „Blasen“, die von den Jets in das heiße Gas des Haufens gegraben wurden, sowie Druckwellen, die sich durch das Medium innerhalb des Haufens ausbreiten. Genau diese turbulente Umgebung bereitete Astronomen lange Zeit Kopfzerbrechen: In der Vielzahl überlappender Röntgenquellen war es extrem schwierig, das vom Jet kommende Signal von der Strahlung zu trennen, die der Galaxienhaufen selbst aussendet.
IXPE: Das Teleskop, das die Ausrichtung des Lichts „sieht“
Die Röntgenastronomie als Disziplin existiert seit Jahrzehnten, aber IXPE bringt etwas mit, das bisher fehlte: die Fähigkeit, die Polarisation der Röntgenstrahlung präzise zu messen. Die Polarisation beschreibt die Ausrichtung der Schwingung von Lichtwellen. Wenn Wellen zufällig in alle Richtungen schwingen, ist das Licht unpolarisiert; wenn sie deutlich ausgerichtet sind, spricht man von polarisiertem Licht. Genau dieser Grad der Ausrichtung enthält Informationen über die Geometrie der Magnetfelder und über die physikalischen Prozesse, die hochenergetische Photonen erzeugen.
IXPE ist eine gemeinsame Mission der NASA und der italienischen Weltraumbehörde. Sie wurde im Dezember 2021 gestartet und ist mit drei Teleskopen ausgestattet, die Röntgenstrahlen auf besonders empfindliche Polarisationsdetektoren fokussieren. Durch die Kombination von räumlichen, spektralen und zeitlichen Informationen kann IXPE „kartieren“, wie das Licht in verschiedenen Teilen der Quelle polarisiert ist – zum Beispiel entlang eines Jets eines Schwarzen Lochs oder innerhalb eines Supernova-Überrests –, was bisher mit keinem anderen Röntgenteleskop möglich war.
Der Perseus-Haufen wurde nicht zufällig für die bisher längste Beobachtung von IXPE ausgewählt. Er ist nicht nur im Röntgenbereich extrem hell, in seinem Zentrum befindet sich mit 3C 84 auch eines der bekanntesten Labore zur Untersuchung der Jet-Physik. So konnte die Mission in einer einzigen Kampagne gleichzeitig die Fähigkeiten des Teleskops auf der Ebene des gesamten Galaxienhaufens testen und sich auf eine einzige, aber extrem wichtige aktive Galaxie in seinem Herzen konzentrieren.
Sechzig Tage ununterbrochener Blick in denselben Winkel des Universums
Während der 60 Tage ununterbrochener Beobachtung zwischen Januar und März sammelte IXPE mehr als 600 Stunden Daten über den Perseus-Haufen. Dies ist die mit Abstand längste fokussierte Beobachtung eines einzelnen Ziels in der bisherigen Arbeit der Mission und zudem das erste Mal, dass IXPE überhaupt einen Galaxienhaufen systematisch untersucht hat.
Eine solche Marathon-Beobachtung ermöglichte eine außergewöhnlich hochwertige Statistik zur Messung der Röntgenpolarisation, warf aber auch ein neues Problem auf: Wie lässt sich aus dem „Meer“ der Röntgenstrahlung der Beitrag der Galaxie 3C 84 selbst herausfiltern. Hier kommen weitere Weltraumteleskope ins Spiel. Das Chandra Röntgen-Observatorium der NASA, bekannt für seine extrem scharfen Röntgenbilder, diente dazu, die Emission des Jets präzise vom diffusen Leuchten des heißen Gases im Haufen zu trennen. Die Missionen NuSTAR (Nuclear Spectroscopic Telescope Array) und Neil Gehrels Swift lieferten zusätzliche Daten in höheren Energiebereichen und über einen größeren Zeitraum.
Erst durch die Kombination all dieser Daten – der Polarisationsmessungen von IXPE und der Bilder und Spektren von Chandra, NuSTAR und Swift – konnten die Wissenschaftler mit Gewissheit sagen: Dieser Teil des Signals stammt tatsächlich vom Jet des Schwarzen Lochs in 3C 84 und nicht von einer anderen Quelle im Haufen.
Wie Röntgenstrahlen in den Jets Schwarzer Löcher entstehen
Es war schon länger bekannt, dass Röntgenstrahlen aus den Jets aktiver Galaxien durch einen Prozess namens inverse Compton-Streuung entstehen. Bei diesem Prozess „kollidieren“ Photonen mit niedrigerer Energie – zum Beispiel Radio- oder Infrarotphotonen – mit sehr schnellen Elektronen im Jet und gewinnen dabei Energie, wodurch sie in den Röntgenbereich übergehen. Die Schlüsselfrage war: Woher kommen diese anfänglichen, sogenannten „Seed-Photonen“, also die Ausgangsphotonen, die dann zu Röntgenstrahlen beschleunigt werden.
Es gab zwei Hauptmöglichkeiten. Im Szenario der internen Synchrotron-Selbst-Compton-Streuung (SSC) entstehen die Ausgangsphotonen im Jet selbst. Dieselben Elektronen, die spiralförmig um die Magnetfeldlinien kreisen und Synchrotronstrahlung niedrigerer Energie aussenden, erhöhen dann durch Kollisionen die Energie dieser Photonen wieder in den Röntgenbereich. Im Alternativszenario der externen Compton-Streuung stammen die Ausgangsphotonen aus der „Umgebung“ – von der Akkretionsscheibe, Gaswolken um die Galaxie oder sogar von der kosmischen Hintergrundstrahlung.
Beide Szenarien können die Gesamtmenge der beobachteten Röntgenstrahlen erklären, sagen aber unterschiedliche Polarisationsmuster voraus. Wenn die Photonen aus einer organisierten Synchrotronstrahlung im Jet stammen, wird erwartet, dass das Röntgenlicht moderat polarisiert ist, wobei die Polarisationsrichtung mit der Geometrie des Jets und des Magnetfelds zusammenhängt. Wenn die Photonen jedoch aus allen möglichen Richtungen von außen kommen, sollte das endgültige Signal viel schwächer polarisiert und über die Richtungen „verschmiert“ sein.
Die entscheidende Spur: vier Prozent Polarisation
IXPE lieferte genau in diesem Detail die entscheidende Information. Messungen zeigten, dass das Röntgenlicht von 3C 84 im Durchschnitt um etwa 4 Prozent polarisiert ist. Obwohl dieser Wert auf den ersten Blick bescheiden erscheinen mag, steht er in sehr guter Übereinstimmung mit den Vorhersagen des Synchrotron-Selbst-Compton-Modells und ist nur schwer mit einem dominierenden externen Compton-Szenario in Einklang zu bringen.
Noch wichtiger ist, dass gleichzeitige Beobachtungen im optischen und im Radiobereich, die von Teleskopen weltweit durchgeführt wurden, ähnliche Polarisationsgrade und verwandte Ausrichtungen der Polarisationsvektoren zeigten. Dies bedeutet, dass die Photonen über das gesamte elektromagnetische Spektrum – von Radiowellen bis hin zu Röntgenstrahlen – im selben physikalischen System erzeugt und geformt werden: im Jet, der vom supermassereichen Schwarzen Loch im Zentrum von 3C 84 ausgestoßen wird.
Die Autoren der Arbeit betonen, dass bereits bekannt war, dass die Röntgenstrahlen bei Quellen wie 3C 84 aus der inversen Compton-Streuung stammen, es jedoch nicht möglich war zu unterscheiden, welches der beiden Szenarien korrekt ist. IXPE hat es nun erstmals ermöglicht, die Eigenschaften der Ausgangsphotonen direkt zu messen. Die Tatsache, dass die Polarisation in den Röntgenstrahlen eindeutig nachgewiesen wurde, schließt die Möglichkeit fast vollständig aus, dass die Emission vom externen Compton-Mechanismus dominiert wird, und spricht stark für das Modell, in dem der Jet seine eigene Strahlung „recycelt“.
3C 84: Eine Galaxie, viele Rollen
Die Galaxie 3C 84 ist in den Augen der Astronomen schon lange etwas Besonderes. Als hellstes Mitglied des Perseus-Haufens ist sie der Schlüssel zum Verständnis, wie supermassereiche Schwarze Löcher ihre galaktische und intergalaktische Umgebung beeinflussen. Aufnahmen des Hubble-Weltraumteleskops enthüllen komplexe Filamente aus Gas und Staub sowie Spuren von Galaxienkollisionen, während Röntgenbeobachtungen riesige Hohlräume zeigen, die die Jets in das heiße Gas des Haufens „gebohrt“ haben.
Radioteleskope, einschließlich des globalen Netzwerks des Event Horizon Telescopes, haben die Jets von 3C 84 auf verschiedenen räumlichen Skalen kartiert und entdeckt, dass sie wahrscheinlich leicht präzedieren – also langsam im Raum „taumeln“ –, was komplexe Muster in der Radiostrahlung erzeugt. All dies macht 3C 84 zu einer der am detailliertesten untersuchten aktiven Galaxien und zu einem idealen Labor für das Testen von Theorien über den Antrieb von Jets, die Rolle von Magnetfeldern und die Rückkopplung zwischen dem Schwarzen Loch und dem umgebenden Gas.
Die neuen IXPE-Ergebnisse fügen dieser Galaxie nun eine weitere wichtige Rolle hinzu: 3C 84 wird zum Referenzobjekt für das Verständnis, wie Synchrotronstrahlung und inverse Compton-Streuung zu einem einheitlichen Bild der Jet-Emission über das gesamte Spektrum, von Radio- bis Röntgenwellenlängen, verschmelzen.
Die Stärke der gemeinsamen Kampagne von Weltraum- und Bodenobservatorien
Einer der beeindruckendsten Aspekte dieser Forschung ist die Art und Weise, wie sie durchgeführt wurde. IXPE agierte nicht allein – während der sechzigtägigen Kampagne richteten Dutzende von optischen und Radioteleskopen auf der Erde periodisch ihre Antennen und Spiegel auf 3C 84, um Änderungen der Helligkeit und Polarisation in verschiedenen Teilen des Spektrums zu verfolgen. Gleichzeitig lieferten die Weltraummissionen Chandra, NuSTAR und Swift entscheidende Daten im Röntgenbereich.
Eine solche koordinierte Mehrfrequenz-Kampagne ermöglichte es, denselben physikalischen Prozess gleichzeitig auf mehreren „Wellenlängen“ zu beobachten. Als IXPE etwa 4 Prozent Polarisation in den Röntgenstrahlen maß, konnten die Wissenschaftler prüfen, ob im optischen und im Radiobereich etwas Ähnliches geschah. Die Tatsache, dass die Antwort positiv ausfiel, gab der Schlussfolgerung zusätzliche Relevanz, dass es sich um eine Synchrotron-Selbst-Compton-Streuung im Jet handelt und nicht um eine zufällige Kombination unabhängiger Quellen.
Das Projekt veranschaulicht auch, wie moderne astrophysikalische Experimente als globale Unternehmungen funktionieren. An der Forschung sind Wissenschaftler und Institutionen aus zwölf Ländern beteiligt, und die Mission wird vom Marshall Space Flight Center der NASA in Huntsville und der italienischen Weltraumbehörde geleitet, mit operativer Unterstützung von BAE Systems und dem Laboratory for Atmospheric and Space Physics der University of Colorado.
Was uns diese Entdeckung über Schwarze Löcher und das Universum verrät
Obwohl es auf den ersten Blick so scheinen mag, als handele es sich um ein spezialisiertes Ergebnis, das nur einen engen Expertenkreis interessiert, reichen die Folgen der Entdeckung viel weiter. Jets supermassereicher Schwarzer Löcher sind entscheidend für die Entstehung und Entwicklung von Galaxien und Galaxienhaufen: Sie heizen das umgebende Gas auf, können dessen Abkühlung und die Entstehung neuer Sterne verhindern und gewaltige Energiemengen auf intergalaktische Skalen umleiten.
Um diese Prozesse in Computersimulationen der Entwicklung des Universums einzubauen, müssen wir besser verstehen, wie Jets entstehen, wie sie beschleunigt werden und wo genau sie die Strahlung erzeugen, die wir sehen. Die neuen IXPE-Messungen liefern einen wichtigen Teil dieses Puzzles und zeigen, dass zumindest im Fall von 3C 84 ein entscheidender Teil der Röntgenstrahlen innerhalb des Jets selbst erzeugt wird, und zwar in Regionen, die bereits zuvor als Zonen von Schocks und verstärkter Synchrotronstrahlung identifiziert worden waren.
Die Ergebnisse werden als Referenz für zukünftige Beobachtungen anderer aktiver Galaxien und Blasare dienen – Objekten, bei denen der Jet fast exakt auf uns gerichtet ist. Durch den Vergleich mit 3C 84 werden Astronomen beurteilen können, wie universell die Mechanismen der Röntgenentstehung sind und wie sehr sie von spezifischen Bedingungen in der jeweiligen Galaxie abhängen, wie etwa der Stärke des Magnetfelds oder der Rotationsgeschwindigkeit des Schwarzen Lochs.
Nächste Schritte für IXPE und die Erforschung des Perseus-Haufens
Obwohl das Rätsel um den Ursprung der Röntgenstrahlen im Jet von 3C 84 weitgehend gelöst ist, ist die Arbeit der IXPE-Mission noch lange nicht beendet. Wissenschaftler analysieren weiterhin Daten aus anderen Teilen des Perseus-Haufens und suchen nach zusätzlichen Polarisationssignalen. Sie interessieren sich besonders für breitere Muster im Gas innerhalb des Haufens und potenzielle Spuren noch komplexerer Magnetfeldstrukturen auf der Skala des gesamten Haufens.
Gleichzeitig beobachtet IXPE weiterhin andere Arten von Quellen: Supernova-Überreste, Pulsare, Doppelsternsysteme mit Schwarzen Löchern und Neutronensternen. Jedes dieser Objekte bietet ein anderes „Labor“ zum Testen der Physik unter extremen Bedingungen, von ultrastarken Magnetfeldern bis hin zu Gravitationspotenzialen, die in Laboren auf der Erde nicht reproduziert werden können.
Die Mission war ursprünglich als vierjähriges Projekt geplant, aber die bisherigen Ergebnisse – einschließlich dieser Entdeckung im Perseus-Haufen – zeigen, dass das Potenzial von IXPE die ursprünglichen Erwartungen bei Weitem übertrifft. Solange das Teleskop und seine Instrumente funktionstüchtig bleiben, plant die wissenschaftliche Gemeinschaft, die einzigartige Möglichkeit zur direkten Messung der Polarisation von Röntgenlicht aus einigen der extremsten Objekte im Universum maximal zu nutzen.
Der Perseus-Haufen bleibt somit eines der wichtigsten „Testgelände“ im Weltraum, auf dem untersucht wird, wie supermassereiche Schwarze Löcher Hunderte und Tausende von Galaxien sowie die riesigen Wolken heißen Gases um sie herum beeinflussen. Dank IXPE und seinen Partnern wird dieses Labor nun in einem völlig neuen Licht betrachtet – im wörtlichen und im übertragenen Sinne –, was uns enthüllt, wie Schwarze-Loch-Jets Röntgenstrahlung erzeugen und welche Rolle sie bei der Gestaltung des Universums auf den größten Skalen spielen.
Detailliertere Informationen zu den wissenschaftlichen Zielen, Instrumenten und aktuellen Beobachtungen finden Sie auf der offiziellen Website der IXPE-Mission.
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Erstellungszeitpunkt: 8 Stunden zuvor