Unser Stern, die Sonne, ist eine unerschöpfliche Quelle von Energie und Leben, aber gleichzeitig auch der leistungsstärkste Teilchenbeschleuniger in unserem System. In den komplexen Prozessen, die tief in ihrer Atmosphäre stattfinden, stößt die Sonne ständig riesige Mengen energiereicher Teilchen in den Weltraum aus. Unter ihnen heben sich die sogenannten solaren energetischen Elektronen (SEE) besonders hervor, subatomare Teilchen, die auf Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden. Lange Zeit wurde angenommen, dass diese Elektronen ein einzigartiges Phänomen seien, doch revolutionäre Entdeckungen der Mission Solar Orbiter, die von der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) in Zusammenarbeit mit der NASA geleitet wird, haben gezeigt, dass die Wahrheit wesentlich komplexer ist. Wissenschaftlern ist es gelungen, diesen Teilchenstrom in zwei grundlegend verschiedene Gruppen zu trennen und jede erfolgreich zu ihrer spezifischen Quelle auf der Sonne zurückzuverfolgen.
Diese Entdeckung vertieft nicht nur unser Verständnis der fundamentalen Physik der Sonne, sondern hat auch direkte und entscheidende Auswirkungen auf die Vorhersage des Weltraumwetters – ein Phänomen, das verheerende Folgen für unsere technologische Zivilisation haben kann, von Satelliten im Orbit bis hin zu Stromnetzen auf der Erde. Durch die präzise Kartierung des Ursprungs dieser superschnellen Elektronen schlagen wir ein neues Kapitel zum Schutz unserer Infrastruktur und zukünftiger Weltraummissionen auf.
Die Geheimnisse der Sonne aus der Nähe enthüllen
Der Schlüssel zu dieser epochalen Entdeckung liegt in den einzigartigen Fähigkeiten der Raumsonde Solar Orbiter. Im Gegensatz zu früheren Missionen, die die Sonne aus größerer Entfernung beobachteten, bringt die elliptische Umlaufbahn des Solar Orbiters ihn unglaublich nah an unseren Stern, zeitweise sogar innerhalb der Umlaufbahn des Merkurs. Genau diese Nähe ermöglicht es den Wissenschaftlern, die Teilchen in ihrem „unberührten“ Zustand zu analysieren, bevor ihre Bahnen und ihre Energie durch die lange Reise durch den interplanetaren Raum erheblich verändert werden. Die Beobachtung der Ereignisse aus einer solchen Nähe ermöglichte es dem Team, die genaue Zeit und den Ort ihres Entstehens auf der Sonne mit außerordentlicher Präzision zu bestimmen.
Alexander Warmuth vom Leibniz-Institut für Astrophysik Potsdam (AIP), der Hauptautor der Studie, betont die Bedeutung dieses Ansatzes: „Wir konnten diese beiden Gruppen identifizieren und verstehen, indem wir Hunderte von Ereignissen in unterschiedlichen Abständen von der Sonne mit mehreren Instrumenten beobachteten – etwas, das nur der Solar Orbiter leisten kann. Die Nähe zur Sonne ermöglichte es uns, die Teilchen in ihrem frühen, ursprünglichen Zustand zu messen und so ihre Quelle präzise zu lokalisieren.“
Zwei Arten von solaren Elektronenstürmen
Bei der Analyse von Daten, die von mehr als 300 einzelnen Ereignissen zwischen November 2020 und Dezember 2022 gesammelt wurden, stellten die Wissenschaftler eine klare Trennung fest. Auf der einen Seite stehen „impulsive“ Ereignisse, auf der anderen „graduelle“.
Impulsive Ereignisse sind mit Sonneneruptionen verbunden. Sonneneruptionen sind plötzliche und intensive Explosionen auf der Sonnenoberfläche, die eine enorme Energiemenge in Form von Strahlung freisetzen. Elektronen, die aus diesen Ereignissen stammen, werden in schnellen, kurzlebigen Ausbrüchen von der Sonne ausgestoßen. Man kann sie sich als scharfe, konzentrierte Schüsse energiereicher Teilchen vorstellen.
Im Gegensatz dazu sind graduelle Ereignisse mit viel größeren und länger andauernden Phänomenen verbunden, die als koronale Massenauswürfe (KMA) bekannt sind. KMA sind riesige Wolken aus Plasma und Magnetfeld, die sich von der Sonnenatmosphäre, der Korona, lösen und durch den Weltraum reisen. Elektronen, die mit KMA in Verbindung stehen, werden über einen längeren Zeitraum freigesetzt und erzeugen eine breitere und länger anhaltende Welle von Teilchen, die das Sonnensystem überflutet. Obwohl Wissenschaftler bereits zuvor von der Existenz dieser beiden Arten von Ereignissen wussten, hat der Solar Orbiter zum ersten Mal unwiderlegbare Beweise geliefert, die sie direkt mit ihren unterschiedlichen Quellen auf der Sonne in Verbindung bringen.
Synergie der Instrumente: Der Schlüssel zum Erfolg
Diese Untersuchung stellt die bisher umfassendste Studie über solare energetische Elektronen dar, und ihr Erfolg liegt in der koordinierten Nutzung von sogar acht der zehn wissenschaftlichen Instrumente an Bord des Solar Orbiters. Die Mission ist so konzipiert, dass sie gleichzeitig zwei Arten von Messungen durchführt: Fernerkundung und In-situ-Messungen.
Fernerkundungsinstrumente wie der EUI (Extreme Ultraviolet Imager) und STIX (Spectrometer/Telescope for Imaging X-rays) überwachen ständig die Sonnenoberfläche und -atmosphäre und erfassen Details von Sonneneruptionen im extremen ultravioletten und Röntgen-Spektrum. Gleichzeitig blockiert der Koronograph Metis das blendende Licht der Sonnenscheibe, um die äußere, dünnere Korona abzubilden, was eine direkte Beobachtung der großartigen koronalen Massenauswürfe ermöglicht.
Während diese Instrumente die Sonne „beobachten“, führt der Detektor für energetische Teilchen (EPD) In-situ-Messungen durch, was bedeutet, dass die Raumsonde buchstäblich durch die Wolken von Elektronen fliegt, die sie beobachtet. Der EPD analysiert ihre Zusammensetzung, Energie und Bewegungsrichtung. Frederic Schuller, Mitautor der Studie vom AIP, betont: „Zum ersten Mal haben wir diese Verbindung zwischen energetischen Elektronen im Weltraum und den Ereignissen auf der Sonne, die ihre Quelle sind, klar gesehen. Wir haben die Teilchen in situ gemessen, während andere Instrumente gleichzeitig beobachteten, was auf der Sonne geschah, und dabei auch Daten über die Weltraumumgebung zwischen der Sonne und der Raumsonde sammelten.“
Das Rätsel der Zeitverzögerung lösen
Eines der langjährigen Rätsel in der Sonnenphysik war die scheinbare Verzögerung zwischen dem Zeitpunkt, an dem Astronomen eine Sonneneruption oder einen KMA beobachten, und dem Zeitpunkt, an dem energiereiche Elektronen einen Detektor im Weltraum erreichen. In einigen extremen Fällen schien es Stunden zu dauern, bis die Teilchen von der Sonne „entkommen“ konnten. Die Frage war: Warum?
Daten vom Solar Orbiter bieten nun eine Antwort. Laura Rodríguez-García, eine Forschungsstipendiatin der ESA, erklärt: „Es stellt sich heraus, dass diese Verzögerung zumindest teilweise damit zusammenhängt, wie Elektronen durch den Weltraum reisen. Es kann eine Verzögerung bei der Freisetzung selbst geben, aber auch eine Verzögerung bei der Detektion.“ Der Raum zwischen der Sonne und den Planeten ist nämlich nicht leer. Er ist mit dem Sonnenwind gefüllt, einem kontinuierlichen Strom geladener Teilchen, der von der Sonne strömt und das Magnetfeld der Sonne mit sich führt. Auf ihrem Weg treffen Elektronen auf Turbulenzen im Sonnenwind, werden in verschiedene Richtungen gestreut und bewegen sich nicht geradlinig. Ihre Bahn ist chaotisch und deutlich länger als eine direkte Linie. Je weiter der Beobachter von der Sonne entfernt ist, desto mehr häufen sich diese Effekte an und die Verzögerung bei der Detektion wird größer.
Bedeutung für die Weltraumwettervorhersage und die Sicherheit auf der Erde
Diese grundlegende wissenschaftliche Entdeckung hat eine immense praktische Bedeutung. Das Verständnis und die Vorhersage des Weltraumwetters sind entscheidend für die Sicherheit unserer Technologie. Die Unterscheidung zwischen den beiden Arten von SEE-Ereignissen ist für eine genaue Vorhersage von entscheidender Bedeutung. Ereignisse, die mit koronalen Massenauswürfen (KMA) verbunden sind, stellen eine deutlich größere Bedrohung dar. Sie tragen eine größere Anzahl hochenergetischer Teilchen und können schwere Schäden an Satelliten verursachen, die Gesundheit von Astronauten gefährden, indem sie sie gefährlichen Strahlungswerten aussetzen, und auf der Erde geomagnetische Stürme verursachen, die Stromnetze und Kommunikationssysteme lahmlegen können.
Daniel Müller, Projektwissenschaftler der ESA für den Solar Orbiter, hebt hervor: „Wissen wie dieses vom Solar Orbiter wird dazu beitragen, andere Raumfahrzeuge in Zukunft zu schützen, indem es uns ermöglicht, die energiereichen Teilchen von der Sonne, die unsere Astronauten und Satelliten bedrohen, besser zu verstehen.“ Die Fähigkeit, auf der Grundlage der ersten detektierten Teilchen schnell festzustellen, ob sie von einer relativ harmlosen Eruption oder einem potenziell katastrophalen KMA stammen, könnte wertvolle Zeit für das Ergreifen von Schutzmaßnahmen liefern.
Die Zukunft der Sonnenbeobachtung: Die Missionen Vigil und Smile
Die Erkenntnisse des Solar Orbiters sind nur der Anfang einer neuen Ära im Verständnis der Sonne. Die ESA plant bereits zukünftige Missionen, die auf diesen Entdeckungen aufbauen werden. Die Mission Vigil, deren Start für 2031 geplant ist, wird einen revolutionären Ansatz verfolgen. Sie wird an einem Ort positioniert, von dem aus sie zum ersten Mal in der Geschichte die „Seite“ der Sonne operativ beobachten kann. Dies wird es ihr ermöglichen, potenziell gefährliche Sonnenereignisse wie aktive Regionen, die zu KMA neigen, Tage bevor sie sich durch die Rotation der Sonne zur Erde drehen, zu erkennen und uns so eine unschätzbare Frühwarnung zu geben.
Unser Verständnis der Reaktion der Erde auf Sonnenstürme wird mit dem Start der ESA-Mission Smile, geplant für 2026, weiter erforscht. Smile wird untersuchen, wie die Erde dem ständigen Sonnenwind und den gelegentlichen Einschlägen starker Teilchen standhält, und die Wechselwirkung dieser Teilchen mit unserem schützenden Magnetfeld erforschen. Zusammen werden diese Missionen ein umfassendes System zur Überwachung und zum Schutz vor den Launen unseres Sterns schaffen.
Erstellungszeitpunkt: 12 Stunden zuvor