In der modernen Welt, die von ständiger Hektik und einem urbanen Lebensstil geprägt ist, ist Stress zu einem fast unvermeidlichen Begleiter des Alltags geworden. Auf der Suche nach wirksamen Methoden zur Entspannung und zur Verbesserung des geistigen Wohlbefindens wenden wir uns immer mehr der Natur zu. Einer der bekanntesten Ansätze, der aus Japan stammt, ist Shinrin-yoku, also das „Waldbaden“. Diese Praxis, die sich nicht auf das physische Baden bezieht, sondern auf das bewusste und vollständige Eintauchen in die Waldatmosphäre mit allen Sinnen, senkt wissenschaftlich nachgewiesen den Spiegel des Stresshormons Cortisol, reduziert den Blutdruck und stärkt das Immunsystem. Doch was, wenn der Zugang zu einem echten Wald begrenzt oder unmöglich ist? Kann die Technologie diese Lücke schließen? Genau diese Frage hat ein Team von Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (MPIB) und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) zu einer innovativen Untersuchung veranlasst.
Die Grenzen der virtuellen Natur erforschen
Ihre kürzlich durchgeführte Pilotstudie, deren Ergebnisse in der renommierten Fachzeitschrift Journal of Environmental Psychology veröffentlicht wurden, untersuchte, ob ein virtueller Waldspaziergang Stress lindern und den emotionalen Zustand verbessern kann. Der Fokus der Forschung lag auf der zentralen Frage: Ist die Wirkung stärker, wenn die virtuelle Umgebung gleichzeitig mehrere Sinne stimuliert? Inspiriert von den therapeutischen Anwendungen von Shinrin-yoku in Japan, beschlossen die deutschen Wissenschaftler zu prüfen, ob sich die wohltuende Wirkung eines Aufenthalts in der Natur in der digitalen Welt nachbilden lässt. Ihr Ziel war es, ein möglichst überzeugendes und umfassendes Erlebnis zu schaffen, das über die reine visuelle Betrachtung hinausgeht.
Für dieses ehrgeizige Projekt wurde ein hochwertiges 360°-Video im größten Douglasienwald Europas, dem Naturschutzgebiet Sonnenberg bei Parchim, gedreht. Dieses Video war nicht nur visuell beeindruckend, sondern wurde auch von authentischen, vor Ort aufgenommenen Geräuschen begleitet – dem Rauschen der Blätter, dem Gesang der Vögel und dem Knacken von Zweigen. Um das Erlebnis vollständig multisensorisch zu gestalten, führten die Wissenschaftler eine dritte Dimension ein – den Geruchssinn. Mit ätherischen Ölen, die direkt aus Douglasienbäumen gewonnen wurden, schufen sie eine Duftkulisse, die die Teilnehmer noch tiefer in die virtuelle Waldwelt eintauchen lassen sollte. Dieser Ansatz basiert auf dem Verständnis, dass unsere Wahrnehmung der Natur eine ganzheitliche Erfahrung ist, die alle unsere Sinneskanäle einbezieht.
Methodik und experimentelles Design
An der Studie nahmen mehr als 130 Probanden teil. Vor dem eigentlichen virtuellen Erlebnis wurde jeder Teilnehmer einer akuten Stresssituation durch sorgfältig ausgewählte Bilder ausgesetzt, die nachweislich Stress auslösen. Nach dieser Phase der Stressinduktion wurden die Teilnehmer, ausgestattet mit VR-Brillen, in vier verschiedene Gruppen eingeteilt. Die erste Gruppe erlebte die volle, multisensorische Erfahrung – eine Kombination aus visuellen Reizen, authentischen Waldgeräuschen und dem Duft von Douglasien. Die anderen drei Gruppen erlebten nur einen der Sinnesreize: Eine Gruppe sah nur das Video ohne Ton und Geruch, eine andere hörte nur die Waldgeräusche in einer neutralen virtuellen Umgebung, um den visuellen Einfluss zu minimieren, und die dritte wurde nur dem Geruch ausgesetzt, ebenfalls in einer visuell neutralen Umgebung. Dieses detaillierte experimentelle Design ermöglichte es den Wissenschaftlern, die Wirkungen einzelner Sinne im Vergleich zu ihrer Kombination präzise zu isolieren und zu vergleichen.
Die Kraft der Synergie: Ergebnisse, die neue Möglichkeiten eröffnen
Die Ergebnisse waren eindeutig und statistisch signifikant. Die Gruppe, die der Kombination aller drei Sinnesreize – Bild, Ton und Geruch – ausgesetzt war, zeigte eine deutlich stärkere Stimmungsverbesserung im Vergleich zu den Gruppen, die nur einen Reiz erhielten. Darüber hinaus berichteten die Teilnehmer der multisensorischen Gruppe von einem signifikant stärkeren Gefühl der Verbundenheit mit der Natur, was darauf hindeutet, dass gerade die Synergie der Sinne der Schlüssel zur Schaffung eines überzeugenden und therapeutisch wirksamen virtuellen Erlebnisses ist. Interessanterweise wurden neben den positiven Auswirkungen auf die Stimmung auch begrenzte Verbesserungen des Arbeitsgedächtnisses festgestellt. Das Arbeitsgedächtnis ist eine kognitive Funktion, die es uns ermöglicht, Informationen kurzfristig zu speichern, zu verarbeiten und abzurufen, und seine Verbesserung deutet darauf hin, dass virtuelle Natur auch kognitive Vorteile haben kann. Die Forscher betonen jedoch, dass es sich hierbei um die Ergebnisse einer Pilotstudie handelt und die Effekte spezifisch für das getestete Gebiet sind und noch nicht als allgemeingültig angesehen werden können. Weitere, umfangreichere Studien mit einer größeren Teilnehmerzahl sind erforderlich, um diese Ergebnisse zu bestätigen und ein tieferes Verständnis der Mechanismen zu erlangen, die hinter den erholsamen Wirkungen virtueller Naturerlebnisse stehen.
Wissenschaftliche Perspektive und zukünftige Anwendungen
Leonie Ascone, Hauptautorin der Studie und Forscherin in der Arbeitsgruppe Neuronale Plastizität am UKE, betonte die Bedeutung dieser Ergebnisse: „Schon jetzt können wir sagen, dass digitale Naturerlebnisse absolut eine emotionale Wirkung entfalten können – auch wenn sie die reale Natur nicht ersetzen.“ Ihre Worte unterstreichen das Potenzial der Technologie als ergänzendes Werkzeug zur Verbesserung des Wohlbefindens und nicht als Ersatz für den authentischen Kontakt mit der Umwelt. Dr. Simone Kühn, Leiterin der Studie und Direktorin des Zentrums für Umweltneurowissenschaften am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, ging auf die praktischen Auswirkungen ein. „Besonders an Orten mit eingeschränktem Zugang zur Natur – wie Kliniken, Wartezimmern oder städtischen Innenräumen – könnten multisensorische VR-Anwendungen oder die gezielte Platzierung von Naturszenen das geistige Wohlbefinden unterstützen. Bilder, Geräusche und Düfte der Natur bieten ein bisher unterschätztes Potenzial zur Verbesserung der Stimmung und der geistigen Leistungsfähigkeit in Alltagssituationen“, fügt Kühn hinzu. Ihre intensive Forschungsarbeit auf dem Gebiet des Einflusses der Umwelt auf das menschliche Gehirn bestätigt diese Thesen zusätzlich. In Zusammenarbeit mit Kollegen der Universitäten Wien, Exeter und Birmingham hat sie kürzlich nachgewiesen, dass bereits das bloße Betrachten von Naturvideos dazu führen kann, dass Patienten körperliche Schmerzen als weniger intensiv wahrnehmen, ein Ergebnis, das in einer Studie von Steininger et al. (2025) veröffentlicht wurde. Diese Erkenntnisse öffnen die Tür für die Anwendung virtueller Natur in einem breiten Spektrum von Umgebungen, von Krankenzimmern bis hin zu stressigen Büroräumen, und bieten eine zugängliche und wirksame Methode zur Stressbewältigung und Verbesserung der Lebensqualität.
Die Biophilie-Hypothese und der breitere Kontext
Diese Ergebnisse passen perfekt in den breiteren wissenschaftlichen Rahmen, der als „Biophilie-Hypothese“ bekannt ist und vom Biologen Edward O. Wilson populär gemacht wurde. Nach dieser Hypothese haben Menschen ein angeborenes, genetisch bedingtes Bedürfnis, sich mit der Natur und anderen Lebensformen zu verbinden. Unsere Evolutionsgeschichte fand in einer natürlichen Umgebung statt, daher reagieren unser Gehirn und unser Körper positiv auf Reize aus der Natur, wie Grün, das Geräusch von Wasser oder den Geruch von Erde nach dem Regen. In der heutigen, überwiegend urbanisierten Welt ist diese Verbindung oft unterbrochen, was zu einem Anstieg von Stress, Angst und anderen psychischen Problemen beitragen kann. Die Studie zum virtuellen Waldbaden legt nahe, dass selbst simulierte Natur, wenn sie reichhaltig und überzeugend genug ist, diese tief verwurzelten biophilen Reaktionen aktivieren kann. Die Verwendung eines multisensorischen Ansatzes ist entscheidend, da er eine Illusion der Präsenz erzeugt, die stark genug ist, um unser Gehirn zu „täuschen“ und ein Gefühl der Ruhe und Verbundenheit hervorzurufen, ähnlich wie es ein Aufenthalt in einem echten Wald tun würde. In diesem Kontext dient die Technologie nicht als Ablenkung von der Natur, sondern als Brücke, die uns in Ermangelung einer besseren Alternative wieder mit ihren wohltuenden Wirkungen verbinden kann.
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